Kein Indianer

Kein Indianer kennt eine – wie auch immer geartete (und nur abartig zu nennende) – Abschaffung eines (unabdingbar zum Leben gehörenden) Todeskultes, während er bei uns, den ach so zivilisierten und fortschrittlichen Bürgern westlicher Prägung, die wir das ewige Leben wollen, schon lange ausgedient hat. Wir reden permanent und aufgeregt über das Sterben (wie über ein Geschäft – und es ist eines) und verschweigen beharrlich den Tod, als liesse er sich so, totgeschwiegen also, „easier handeln“ und endgültig ausmerzen. So wie wir den Tod ehren (und eben nicht mehr ehren), ehren wir das Lebendige: Wir treten es mit Füssen, laufen über Leichen und versuchen mit aller Kraft (und Rücksichtslosigkeit) herauszupressen, was in ihm steckt, bis nur noch wertlose Hülle übrig ist, die wir dann, müllgleich, entsorgen können. Wie praktisch. Wie unsagbar traurig, aber wahr. Und wie noch viel wahrer und viel trauriger, dass es kein zurück mehr gibt – und nur noch ein Weiterfahren auf einem eindimensionalen Highway Richtung Totalverblödung, die, wo alles andere seine natürlichen Grenzen hat, scheinbar grenzenlos ist –

Für einen Indianer ist jeder Tag ein guter Tag zum Sterben, für uns keiner.
Und ich sehne mich jeden zweiten Tag hinfort. Halte dem Wind entgegen: Ach, nimm mich doch mit, flüstere dem Wasser zu: Wasser, komm mach mich dir doch gleich, und wünsch mir, auf einem Berg und unter mir das Land, oft nur eines: Dass ich nämlich nicht mehr wär, oder wenn, dann doch bitteschön sattgrün und saftig glänzend wie eine ungemähte Wiese in der Sonne, auf der Schafe stehen und selbstvergessen fressen (wenn sie denn überhaupt etwas zu vergessen hätten).
Ich hätte genug Scheisse gesehen und erlebt. Und auch Schönes, ja. Eben gerade auch das: Schönes, das man dann, wenn es weg war, um so mehr vermissen konnte (und tat – Stichwort: Erhörte Gebete). Es gab Frauen, die waren der Wahnsinn, wirklich und erreichbar und unerreichbar unwirklich aber wahr, ich hatte Frauen, die liebten mich und liebte Frauen, die sich (und mich) nicht lieben konnten (oder wollten), war glücklich und unglücklich verliebt und liiert, idealisierte und desillusionisierte, lebte Symbiosen, durchschritt und durchlitt Täler totaler Verschossenheit und genoss ihre luftigen Anhöhen, schwebte über allem und stürzte ab, es war da, wo mir nichts gleichgültig gewesen war, alles egal und nichts mehr heilig, ich fickte ohne zu fragen und wurde fraglos gefickt, habe alles falsch gemacht und vieles richtig, war richtig böse und falsch freundlich, gerecht und ungerecht, schlecht und gut, habe die Sonne gesehen, das Meer, Wälder und Bäume, Himmel und Erde, habe Katzen gestreichelt und Babys gehalten, Kinder gehasst und Kinder geliebt, lief durch warmen Regen und fror mich durch die Kälte, erwachte beseelt und es war hell, wachte auf und war zerstört, fing mich nicht mehr und fand zurück, wurde hochgejubelt und zerrissen, uverstanden nach vorne geschoben und als ob es mich nicht gäbe, nach hinten durchgereicht, ich hatte Ideen und Pläne, Träume und Schmerzen, Momente und Stunden wie Tage, war gleichsam Zeit wie ewig, bleiern, Raumgeist wie zeitlos, da war Geborgenheit und Verrat, ich war angekommen und sah mich fallengelassen, aufgefangen, in falschen Händen, befreit und frei, wiedergefunden, wiederverloren, haltlos allein war ich, einsam und einsamer oft noch zu zweit, hoffnungslos fast und dann hoffnungslos hoffnungsfroh, gedankenklein und wirklich einmal ohne jegliche Erwartung glücklich –

Ich würde gelebt haben. So oder so. Mit der tiefen Gewissheit eines stetigen, allgegenwärtigen, sich durch alles hindurchziehendem, durch alles hindurchwirkendem Zuviel an diesem und jenem, gepaart mit einem gleichzeitigen, immerspürbaren, scheinbar unvermeidlichem Gefühl eines immerwährenden Zuwenigs von davon und hiervon –

„Das Leben wird einfacher je älter du wirst“, sagt ein Freund (den ich um seinen scheinbaren Pragmatismus und alles dominierenden Schaffensdrang beneide), „und wenn du zurückschaust, siehst du dann nicht, dass es dir einmal (und viele male) noch viel schlechter ging als jetzt, da du denkst, es wär das beste, nicht mehr zu sein?“ Und ich fühle mich sofort entschwert und wieder leichter, und weiss, es ist wahr: du hast schwerere und viel weniger leichte Lebensmomente verlebt und überstanden, und ich empfinde Dankbarkeit. Eine Dankbarkeit, die an nichts denkt, sich nichts erhofft und doch: alles weiss.

Und dann, später, muss ich doch denken: Aber meine (niemandem zu vermittelnde) Einsamkeit, von der ich heute, im Gegensatz zu früher, weiss, dass es Einsamkeit ist (eine Erkenntnis des Älterwerdens), ist eine gewachsene, und das Nichts, die Leerstelle in mir, die nur die allerwenigsten überhaupt im Stande wären, mit etwas zu besetzen ( mit spürbarerem, ganzem, persönlichem, mich meinendem, nichts ausschliessendem, bedingungslosem, selbständigem, unopportunistischem Leben), diese meine Wüste, wächst weiter und wird weiter anwachsen. Und ich will nicht darauf warten, dass da eines Tages jemand kommen wird, bevor ich emotional komplett eingegangen bin und gar nicht mehr weiss, wo mir das Herz steht, weil da nur noch Ödnis ist. Und ich werde meine Liebe (so wie ich sie verstehe) nicht begradigen und einebnen und gesellschaftskompatibel machen oder was das dann sein soll. Ich werde mein Bild von Liebe nicht verraten. Das nehm ich mit in mein Grab. Wie alles, woran ich einmal geglaubt habe und alles, was ich bin und nie war.

Heute wär ein guter Tag zum Sterben. Und es soll keinen geben, der nicht gut wär.
Die Indianer lieben die Erde wie den ersten Herzschlag eines Neugeborenen. Und wenn sie einmal sterben, gehen sie in ein in die Täler und Berge und Flüsse ihres Lebens und leben dort ewig weiter.

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